Der 1990 neu gewählte Gemeinderat in Brünlos mühte sich wie vielerorts um schnelle sichtbare Verbesserungen im Dorf. Ein Hauptmangel, der schlechte Zustand der Ortsstraßen, stieß jedoch auf unüberwindliche Hindernisse. Denn die Fördermittel zur Straßensanierung waren an den gleichzeitigen Ausbau von Abwasserleitungen gebunden. Die Stadt Thalheim lehnte damals allerdings den Anschluss von Brünlos an ihre geplante Kläranlage im Zwönitztal ab. Das Brünloser Wasser konnte aber nicht über den Berg nach Stollberg geleitet werden. Die Gemeinderäte beschlossen deshalb einmütig, sich anderen nötigen Investitionen zuzuwenden, wenn sich der Straßenausbau, so dringend er auch nötig war, beim besten Willen nicht umsetzen ließ.
Als erste größere Baumaßnahme ging es 1992 um den Bau einer Feierhalle auf dem Friedhof, was nachstehend ausführlicher behandelt wird. Die nächste Investition, der Neubau eines Kindergartens, war für ein eher kleines Dorf ausgesprochen ambitioniert. Das Vorhaben gelang unter Nutzung von Fördermitteln, weil sich damals kaum eine Kommune an solche Objekte wagte. Das 30-jährige Jubiläum wurde 2023 im Brünloser Kindergarten „Sonnenblume“ groß gefeiert und im Zwönitzer Anzeiger gewürdigt. 1995 folgte mit dem Bau eines neuen Freibades, eine nochmals größere Investition, über die an anderer Stelle zu berichten ist.
Hier nun soll es um die Feierhalle und den Friedhof gehen, wenngleich beide eigentlich keine Anlässe bieten, um Jubiläen zu feiern. Es sollte jedoch daran erinnert werden, zumal es in Brünlos um ein Kuriosum geht. Dazu ist ein Rückblick auf die Historie notwendig. Die Beerdigungen erfolgten in Brünlos seit dem Bau des ersten Gotteshauses Anfang des 15. Jh. auf dem umgebenden Friedhof, den eine nahezu runde Steinmauer umschloss. Diese für mittelalterliche Kirchbauten typische Umfriedung wurde 1879 abgerissen. Nur auf der Südwest-Seite baute man einen damals verputzten Mauerabschnitt neu zwischen dem Kunz-Ernst-Haus und der Stallscheune des Freitag-Gutes auf. Jenes Teilstück ist noch erhalten. Es wurde jedoch im Jahr 2000 mit unverputzten Feldsteinen neu errichtet. Übrigens war dies eine der ersten Maßnahmen der Stadt Zwönitz im kurz vorher eingemeindeten Ort Brünlos.
Seit 1880 hatte der Friedhof eine schlichte Leichenhalle, die auf der Nordseite stand. (Heute würde deren Rückseite an die Wand des aktuellen Feuerwehrhauses grenzen.) Mit dem deutlichen Bevölkerungswachstum im 19. Jh. wurde ein weiteres Schulhaus und die Neuanlage eines Friedhofes nötig. Für beides fand sich ein geeigneter Platz nördlich der Kirche. 1892 konnte der neue Friedhof und die (heutige Rudolf-Hennig-)Schule geweiht werden. Als Zugang zu beiden Objekten erweiterte man von der Dorfstraße aus den einstigen Viehweg (heute Felix-Küchler-Straße). Die jetzige Brünloser Hauptstraße gab es noch nicht. Auf dieser Trasse verlief vom Tampel bis zum Abzweig Alte Stollberger Straße ein kaum befestigter Feldweg.
Der Leichenzug kreuzte nun, von der Friedhofshalle an der Kirche kommend, diesen Weg und führte noch knapp 100 Meter auf dem Viehweg, der jetzigen Volkshausstraße, zum Eingang des neuen Friedhofs. Die einstige Wegkreuzung entwickelte sich nach drei Jahrzehnten zur Straßenkreuzung. Denn 1914 begann der Straßenausbau zwischen Tampel und Alter Stollberger Straße. Nach dessen Fertigstellung waren in den 1920er Jahren jedoch nur drei bis vier Omnibusse täglich und dazwischen mal ein Laster oder ein Personenauto unterwegs. Diese fuhren noch vergleichsweise langsam und hielten an, wenn sich doch einmal ein Leichenzug näherte. Ohnehin waren die Autofahrer auf dem Lande das Anhalten gewohnt, beispielsweise wenn hier und da eine Kuhherde über die Straße zur Weide bzw. abends zurück in den Stall getrieben wurde.
Das Problem mit dem Leichenzug an besagter, heute noch bestehender Kreuzung begann erst in den 1960er Jahren, als sowohl der Bus- und Lkw-Verkehr deutlich zunahm und immer mehr private Autos und Motorräder unterwegs waren. Man muss ebenso bedenken, dass früher viel mehr Leute einen Verstorbenen zur letzten Ruhestätte begleiteten. Nicht selten umfasste der Leichenzug 100 und mehr Leute. Es dauerte also fünf, manchmal 10 Minuten, bis alle – gemächlichen Schrittes – die Straße überquert hatten.
Ein weiterer Aspekt kam hinzu. Die lange Zeit verbreitete Praxis, dass Verstorbene in ihrem Wohnhaus aufgebahrt und der Sarg von dort zum Friedhof getragen oder gefahren wurde, ging zu Ende. Die von der Leichenhalle an der Kirche ausgehende Bestattung wurde auch in Brünlos zur Regel. Und so kreuzte immer mal wieder ein Trauerzug die hiesige Hauptstraße. Den Zug eröffnete ein Chorknabe, der das sogenannte Vortragekreuz hielt. Ihm folgte der Geistliche, dann die sechs Träger des Sarges, danach die Familie des Verstorbenen, die Verwandtschaft und die übrige Trauergesellschaft.
Wenn sich der Trauerzug der Straßenkreuzung näherte, musste der vorangehende Chorknabe darauf vertrauen, dass die Fahrzeuge tatsächlich stoppten. Die an sich bei der Schuljugend beliebte Aufgabe des Kreuzträgers (meist gab es ein Extra-Trinkgeld) eignete sich nur noch für Mutige. Nicht selten huschte auf der inzwischen zur Ortsdurchfahrt gewordenen Hauptstraße ein Motorrad oder ein Auto, dessen Fahrer nicht so lange warten wollte, kurz vor dem Kreuzträger vorbei, manchmal einen Bogen fahrend. Mitunter verließ der Pfarrer seinen Platz im Leichenzug und eilte ein paar Schritte voraus, um den Verkehr winkend anzuhalten. Manchmal übernahmen auch Männer aus der Trauergesellschaft diese Aufgabe. Jedenfalls gab und gibt es in den deutschen Verkehrsvorschriften keine Regel zur Begegnungssituation von Leichenzügen und Kraftfahrzeugen. Nur die Pietät räumte der Trauergesellschaft zumindest einen moralischen Vorrang ein.
Wie überall im Land erhöhte sich Jahr für Jahr auch in Brünlos die Dichte des Verkehrs. Die Berufskraftfahrer der Region kannten inzwischen die Spezifik der Kreuzung in der Brünloser Ortsmitte. Die Spannung innerhalb des Trauerzuges blieb indes; sie erhöhte sich stets, sobald die Vorangehenden die Straße erreichten. Ebenso mussten die Leute am Ende des Leichenzuges achtsam sein, denn manch verärgerter Verkehrsteilnehmer machte mit provokanter (An-)Fahrweise seinem Unmut Luft.
Der von 1966 bis 1990, also 24 Jahre, in Brünlos amtierende Pfarrer Christian Ulbricht hatte im Laufe der Jahre eine gewisse Routine beim Queren der Kreuzung entwickelt. Er beruhigte den vorausgehenden Kreuzträger und bestärkte ihn zum unerschrockenen Weiterlaufen; er griff aber auch, wenn nötig, ein und hielt den Verkehr an. Die 1990 folgende junge Pastorin Steffi Stark wuchs sehr schnell in diese spezielle Brünloser Gegebenheit hinein. Wenngleich jeder Beerdigung an sich eine gewisse Spannung innewohnt, kam in diesem Dorf noch ein spezielles Momentum hinzu. Schließlich werden solch praktische Dinge auch nicht auf der Universität behandelt. Keiner der klugen Theologie-Professoren in Leipzig kannte das Brünloser Kuriosum, bei dem ein Leichenzug die Hauptstraße überquert.
Nun hätten die Brünloser Gemeinderäte Anfang der 1990er Jahre, als das Wort „Alleinstellungsmerkmal“ hoch im Kurs stand, den die Straße kreuzenden Leichenzug auch als Besonderheit weiterentwickeln und – wie auch immer – ausbauen können. Nein, man entschied sich anders. Die verantwortlichen Leute im Ort plädierten mehrheitlich für eine Veränderung der immer gefährlicher werdenden Situation. Die Lösung war der Bau einer Leichen- und Feierhalle auf dem Friedhof.
Einige Gemeinderäte, darunter der Verfasser dieses Beitrages, besichtigten den Neubau eines solchen Gebäudes in Bernsdorf bei Lichtenstein, der sowohl gestalterisch als auch größenmäßig den Brünloser Vorstellungen entsprach. Mit der Übernahme des dortigen Entwurfes konnten sogar die Architektenkosten etwas reduziert werden. Als nahezu idealer Standort der neuen Feierhalle kam das mittlere obere Gräberfeld in Frage, welches damals nicht belegt war und als Wiesenfläche diente. Die Stollberger Firma Schneider-Bau mit Sitz an der Chemnitzer Straße erhielt den Zuschlag zur Ausführung. Nach reichlich einjähriger Bauzeit wurde das Objekt 1993 schlüsselfertig übergeben.
Die aus vier großen Fenstern bestehende östliche Vorderfront und die südliche Eingangsseite sind mit rötlichem Sandstein verkleidet. An der Nordseite befinden sich der Aufbahrungsraum und zwei Toiletten. Eine ist von außen zugänglich stellt einen wesentlichen Fortschritt zur Nutzung des Friedhofes dar. Nord- und Westseite der Feierhalle sind weiß verputzt. Das nur wenig geneigte Dach läuft an der „Schauseite“ in einer Spitze aus, was den ansonsten nüchternen Bau zusammen mit der Glas- und Sandsteinfront sowie dem überdachten Zugang zurückhaltend architektonisch prägt.
Die Gestaltung des Innenraumes wurde dem Künstler Johannes Feige (1931-2021) aus Glauchau-Gesau übertragen, der zu dieser Zeit bereits Ausstattungsstücke für das im Bau befindliche Evang. Gemeindezentrum entwarf. Meister Feige konzipierte die farbigen Glasfenster mit der Alpha-Omega-Symbolik, die dem Feierraum einen würdigen Ausdruck verleihen. Außerdem schnitzte er das hölzerne Mittelbildrelief zum Thema „Einer trage des anderen Last“ und entwarf drei klotzartige Ständer für Kerzen und Blumen sowie das Lesepult. Das kleine Dorf Brünlos besitzt somit gleich mehrere Werke vom Grafiker und Holzbildhauer Johannes Feige, einem regional bedeutenden Künstler mit expressiver Gestaltungskraft.
Wichtiger ist aber, dass seit Ende 1993 kein Leichenzug mehr die zu Spitzenzeiten extrem dicht befahrene Brünloser Hauptstraße überqueren muss. Ehrlich gesagt, es würde beim heutigen Verkehr auch nicht mehr funktionieren. Seit drei Jahrzehnten sind es von der Feierhalle, in Ruhe unter den großen Laubbäumen gehend, nur kurze Wege zu allen Grabstellen. Außerdem erhielt im überdachten Eingangsbereich die Erinnerungstafel an die Gefallenen des II. Weltkrieges einen würdigen Platz. Später fand sich gleich nebenan ein guter Standort für das wiederentdeckte Ehrenmal der Opfer des I. Weltkrieges. Doch dies wäre eine neue Geschichte, der sich vielleicht später gewidmet wird. Jedenfalls bilden Feierhalle und Ehrenmal zusammen mit den alten Linden eine stimmige Einheit in der Mitte des Brünloser Friedhofes. Die damals wichtige Entscheidung der Gemeinderäte kurz nach dem Ende der DDR hat sich als ausgesprochen klug bewährt.
Hier gilt es nur noch, kurz auf die eingangs erwähnten miserablen Brünloser Ortsstraßen einzugehen. Das Straßenproblem (eigentlich war es ein Abwasserproblem) konnte erst gelöst werden, nachdem Brünlos ein Teil der Bergstadt Zwönitz geworden war. Das Schmutz- und Regenwasser fließt heute im natürlichen Gefälle Richtung Thalheim und Jahr für Jahr wurde ein weiterer Straßenabschnitt saniert. Mittlerweile hat der Ort durchgängig hervorragende Straßen, aber ebenso ein schönes Freibad, einen feinen Kindergarten und eine zeitgemäß ausgestattete Friedhofshalle.
Anmerkung: Falls jemand ein altes Foto besitzt, das den Leichenzug über die Hauptstraße zeigt, bitte Kontakt mit dem Verfasser oder der Ortschronistin Kerstin Andreis aufnehmen!
Text und Bilder: Gunter Lasch