Es ist kein Schweifen in die Ferne, kein verträumter, über die Zukunft oder Vergangenheit nachsinnender Ausdruck. Der Blick hält stand, ist auf den Betrachter gerichtet. Während der rechte Arm lässig über eine Stuhllehne hängt, ist der linke Arme angewinkelt, die Hand hält eine Pfeife. Dabei kommt der Siegelring am Zeigefinger zur Geltung. Alles an der Körperhaltung strahlt jugendlichen Tatendrang bei gleichzeitiger Souveränität aus. Die Kleidung ist der Mode der Zeit entsprechend schlicht und elegant, bestehend aus dunklem Sakko, gemusterter Seidenweste, hellem Hemd mit abnehmbarem Hemdkragen. Der junge Mann trägt das Haar glatt mit Seitenscheitel. Nichts ist dem Zufall überlassen. Die Pose wurde sorgfältig arrangiert. Und das ist der wesentliche Unterschied zwischen der Portraitfotografie, aufgenommen von einem Fotografen und einem „Selfie“, bei welchem die abgebildete Person selbst die Kontrolle hat und sogleich zu verlieren scheint, den neuesten Selfie-Trends nach zu urteilen: „belfies“ (Fotos vom Hinterteil, das „b“ steht hier für englisch butt) sowie „drelfies“ (Fotos im betrunkenen Zustand, engl. drunk). Der Blick auf das Selbst hat sich offenbar stark gewandelt wie auch die Technik der Fotografie. Das Foto aus dem Museum ist vor fast 170 Jahren entstanden und zeigt den etwa 20 Jahre jungen, noch unverheirateten Julius Reinhard Wintermann aus Burgstädtel, den zukünftigen Pappenfabrikant der Papiermühle Niederzwönitz. Es handelt sich um eine Kollodium-Nassplatten- Fotografie. Das Verfahren wurde 1851 von Frederich Scott Archer und Gustave Le Gray entwickelt und ist relativ einfach. Eine Glasplatte wurde mit einer iod- und bromsilberhaltigen Kollodiumschicht versehen, nach der Belichtung mit einer Eisensulfatlösung entwickelt, mit Natriumthiosulfat fixiert und anschließend mit einem Firnis versehen. Das war günstiger als die damals noch verbreitete Daguerrotypie. Die Nassplatten-Fotografie erfreute sich schnell großer Beliebtheit, denn von nun an konnte sich fast jeder ein Portrait leisten. Die Zeitspanne, in der sich die beschichtete Platte fotografieren und entwickeln lässt, war für die damalige Zeit mit ca. 15 Minuten sehr kurz und machte die Nassplatte zum Verkaufsrenner. Die Fotografen hinterlegten die Glasnegative mit schwarzem Samt oder schwärzten die Rückseite mit einer Asphaltschicht (Ambrotypie) oder belichteten direkt ein schwarz lackiertes Eisenblech (Ferrotypie). Vor diesem dunklen Hintergrund wirkt das Bild wie ein Positiv. An den durchsichtigen Stellen wird der schwarze Hintergrund sichtbar. Die dichten Stellen des Negativs erscheinen durch das graue Silber wie weiß. So konnte der Kunde sein Unikat sozusagen als Sofortbild gleich mit nach Hause nehmen. In der letzten Zeit erlebt das alte Verfahren ein Revival. Da heute Fotos ohne Film und Wartezeit in beliebiger Anzahl mit dem Handy geschossen, in einer Cloud gespeichert und mit Tausenden auf Instagram, Pinterest, Facebook und Co geteilt werden und somit an Wert verlieren, wächst die Sehnsucht nach der „guten alten Zeit“ und damit auch nach alter Kamera- und Aufnahmetechnik. Es wird das Einzigartige, Außergewöhnliche, Seltene angestrebt, um sich von der Masse abzuheben. Und der Witz ist, die Rückbesinnung war auch schon vor hunderten Jahren Mode. So löste die Fotografie mit ihrer Erfindung sogleich hitzige Diskussionen aus. Sie brachte innerhalb kurzer Zeit Maler um ihre Existenz. Das Foto galt als wahres, authentisches Abbild. Gleichzeitig erlebte die Portraitmalerei einen neuen Aufschwung, denn sie war teuer, zeigte Wohlstand an und diente nicht zuletzt der Ausbesserung kleiner Makel, die die Kamera schonungslos wiedergab – eine Art Photoshop aus Urur…großmutters Zeiten. Das älteste Foto vom ersten Wintermann ist in die Jahre gekommen, hat Schadstellen, die restauriert werden müssen. Doch das sichtbare Alter hat Ausstrahlung und macht das Foto in dieser schnelllebigen, medienüberfluteten Welt zu etwas ganz Besonderem. C
Text: Paula Stötzer